|
Baumgartenberg
Ein
Auszug aus der Dokumentation »Drei Schwestern«, die im
Frühjahr 2012 bei Zsolnay, Wien, erscheinen wird, von Walter
Kohl.
Praktisch alles ängstigte und stresste die Dreizehnjährige
im Heim. Nur eine Sache existierte als ein Hauch von Helligkeit in
all der bedrückenden Düsternis rundherum, und die war in
Patricias Kopf: Die Telefonnummer ihres Vaters. Bei einem der monatlichen
Ausgänge schaffte sie es, Rudolf M. in Amsterdam anzurufen, ihm
zu erzählen, dass sie eingesperrt war. Der reiste dann an, um
die Tochter herauszuholen, das wusste die aber nicht. Das einzige,
was sie mitbekam: Bei einem der sonntäglichen Spaziergänge
in der Welt draußen, sprich über Wiesen und Feldwege nahe
dem Klosterareal mit den Margeriten-Mädchen, beaufsichtigt von
mehreren Nonnen, sah sie vor dem Stiftsgebäude eine große
schwarze Limousine mit getönten Scheiben stehen.
Im protzigen Wagen saß Rudolf M., begleitet von ein paar Chinesen
von der Amsterdamer Drogenmafia. Patricia nahm ihn nicht wahr, erst
Jahre später hat es ihr der Vater erzählt. Ihrer Schilderung
nach hatte sich M. hoch gearbeitet in der Halbwelt und Unterwelt Westeuropas,
er dürfte als eine Art Kurier für die Bosse Diamanten von
Belgien in die Niederlande geschmuggelt haben, genaues sagt Patricia
darüber nicht. Ihr Vater hatte damals die Nonnen gebeten, sein
Mädchen sehen zu dürfen. Die hatten das strikt untersagt.
Darum saß er nun mit seinen Begleitern in der Limousine vor
der Klosterpforte. Die Männer waren bewaffnet, mit Revolvern
und Maschinenpistolen. Rudolf M. hatte vor, seine Tochter mit Waffengewalt
zu befreien.
Die erwachsene Patricia erzählt es mit einer Art Sarkasmus: »Das
Lustige war na ja, ich fand's lustig, nachher, wo ich es raus
gefunden hatte: Er stand da draußen mit einem schwarzen Wagen,
er hat mich sogar laufen gesehen, das hat er mir alles später
erzählt. Mit ein paar Chinesen, von Amsterdam, nicht, also so
halbe Drogenbarone oder was. Der wollte mich da raus holen.
Mit Maschinenpistolen und lauter so'n Zeug, ja, echt wahr.«
Dann lacht sie ein helles vergnügtes Lachen, sie macht ihr Spaß,
heute noch, diese Geschichte. Auch Tamara mag die Episode. Als sie
das Band mit Patricias Interview das erste Mal hört, kichert
sie bei dieser Passage und ruft kokett: »He, ich habe also einen
Gangsterboss mit Maschinenpistole als Opa!«
Die Halbweltherren aus Amsterdam haben dann doch nicht zugeschlagen.
Warum sie unverrichteter Dinge wieder abgereist sind, klingt ein wenig
verwirrend in Patricias Erzählung. Da waren zu viele Kinder rund
um sie, da wollte Rudolf M. nicht mit Maschinenpistolen raus und auf
die Nonnen losgehen, und irgendwie spielt auch ein Streifenwagen eine
Rolle, anscheinend war gerade ein Wagen der Gendarmerie vorbeigefahren,
und das hatte den Vater schlussendlich resignieren lassen. Patricia
lacht noch einmal, dann schnupft sie in ein Taschentuch, zwei, drei
Mal. Kündigt sich da eine Verkühlung an, oder braucht sie
bald eine Methadon-Ration? Oder setzt ihr das Erzählen doch zu,
obwohl sie so cool ist, denke ich. Oder interpretiere ich da was hinein?
Im schönen Mühlviertel, Anfang der Siebzigerjahre des vorigen
Jahrhunderts, ging das Jahr zu Ende, das Patricia abzusitzen hatte.
Viele der Mädchen packten Koffer, es gab so etwas wie ein paar
Wochen Ferien zuhause. »Wann gehe ich nach Hause?«, fragte
Patricia die Nonnen, und erhielt eine enttäuschende Antwort:
»Du bist noch nicht reif genug, um in die Welt entlassen zu
werden!« Ohne dass man sie informiert hätte, ohne dass
irgendjemand mit ihr gesprochen hätte, war ihre Heimunterbringung
verlängert worden, auf unbestimmte Zeit. Unterricht gab es im
Sommer nicht, doch für ein paar Ferienwochen nach Hause durfte
sie auch nicht. Die Mädchen, die im Heim blieben, wurden zu Küchen-
und Gartenarbeiten eingesetzt.
Sie begann, ernsthaft nachzudenken, wie sie aus der Anstalt raus kommen
könnte, und entwickelte einen obskuren Plan der aber funktionierte.
Sie erklärt mir relativ umständlich, dass Erna, ihre Mutter,
ständig Groschenhefte mit Grusel- und Horrorgeschichten gelesen
hatte. Patricia hatte aus Langeweile schon im frühen Schulalter
begonnen, diese Gespenstergeschichten zu lesen. Und jetzt sollten
sie ihr zur Freiheit verhelfen: Sie beschloss, die Nonnen mit Erzählungen
von Geistererscheinungen und Satansritualen zu schocken, wie sie sie
aus den Heften kannte.
Sie ging gezielt und geplant vor. Sie nahm sich ein Mädchen zur
Seite, von dem sie wusste, dass es umgehend zu den Nonnen laufen und
alles ausplaudern würde. Dieser Mitgefangenen vertraute sie sich
zum Schein an und verriet ihr, was sie noch nie jemandem erzählt
hatte: All das, was sie in der einen Woche getan und erlebt hatte,
als sie mit dem Lastwagenfahrer unterwegs gewesen war.
Sie habe da so eine Gruppe kennengelernt, log Patricia der anderen
flüsternd vor, das seien Satansjünger gewesen, hätten
den Teufel angebetet. Einmal sei des Nachts der Teufel als Ziegenbock
vor ihr gestanden, und sie habe ihm den Arsch geküsst. Patricia
spricht verschwörerisch leise, als sie mir das schildert: »Was
ich da drin gelesen habe in diesen Schundheftchen, das habe ich der
erzählt. Und habe ihr gesagt: Da darfst du aber nix der Nonne
erzählen!«
Genau das, was sie erwartet hatte, traf ein. Die andere lief umgehend
zu den Nonnen und gab einen detaillierten Bericht ab über die
Ungeheuerlichkeiten, die sie gehört hatte. Patricia wurde auf
der Stelle zur obersten Schwester, der Heimleiterin, befohlen und
ins Gebet genommen. Die Vierzehnjährige zog eine Riesen-Show
ab. Sie führte sich auf, als wäre Satan gerade in diesem
Moment in sie gefahren und habe sich ihrer sündigen Mädchenseele
bemächtigt. Dabei spielte sie der entsetzten Nonne doch nur Szenen
aus den Groschenromanen Ernas vor. Sie fluchte ordinär, spuckte
auf ein Kreuz und machte einen Höllenlärm, als sie das Kreuz
berühren sollte, so, als würden ihre Hände verbrennen
dabei.
Die Oberin rief nach einem Exorzisten, der reiste an aus München
und begann gleich mit dem schaurigen Ritual. »Apage satanas«,
rief er, und bespritzte Patricia mit Weihwasser. Die wand sich in
Schmerzen und fauchte und zischte. Im belgischen Trailerpark spielt
sie mir das vor, sie steht auf, windet sich und ruft schrill, aber
nicht sehr laut: »Ah, ah, das tut so weh!« Wie lang der
Exorzist sie malträtierte, weiß sie nicht mehr, und auch
nicht, was er im einzelnen getan hatte. Nur so viel: Nach ein paar
Tagen gab der Priester auf und fuhr zurück nach München.
Es war nichts zu machen bei diesem schweren Fall.
Patricia: »Die haben das echt geglaubt. Das ist bei denen so
echt rüber gekommen, also ich muss da wirklich sagen ich
war da richtig stolz drauf, dass ich die so am Leim hatte!«
»Bei diesem Exorzismus », frage ich.
»Ja, das war ein echter Exorzismus.«
»Wurde da irgendjemand informiert? Wurde deine Mutter um ihr
Einverständnis gefragt?«
»Nein, nein, da war ich vierzehn, da ist niemand gefragt worden.
Meine Mutter wusste das ja gar nicht.«
Danach hatte sie Ruhe. Sie bekam ein Einzelzimmer, und allen anderen
Mädchen wurde jeglicher Kontakt mit ihr untersagt. Einmal sprach
Patricia eine an, aber die flüsterte nur, »du, ich darf
nicht mit dir reden, sonst kriege ich eine Strafe«, dann war
sie wieder isoliert. Allerdings nur eine Woche lang. Dann hatte sie
erreicht, was sie wollte: Man schmiss sie aus dem Erziehungsheim raus.
So hatte sie es damals empfunden, und so sieht es Patricia auch heute
noch. Was da alles unternommen wurde von der Heimverwaltung, wie das
Jugendamt reagiert hat, weiß sie nicht. Sie erklärt es
sich selbst so: »Die sind nicht mit mir fertig geworden, und
darum haben sie mich rausgeworfen.«
Tatsächlich scheinen die Behörden in Sachen Heimunterbringung
einfach resigniert zu haben. Eine Spur dieser Vorgänge findet
sich in einem »Sozialbericht«, den das Linzer Jugendamt
zwei Jahre nach Patricias Rauswurf aus Baumgartenberg an die Ämter
in Holland schickte, aus Anlass der Turbulenzen um ihr Kind, das sie
in Amsterdam zur Welt gebracht hatte. Darin heißt es unter anderem:
»Das Heim war dann nicht mehr bereit, Patricia zu behalten.
Sie hatte schon dreimal die Gruppe wechseln müssen, weil sie
immer wieder versucht hatte, die Beziehungen in der Gruppe zu stören,
die Gruppenmitglieder gegeneinander auszuspielen, zu intrigieren und
ähnliches mehr. Ihre Mutter hatte sie in ihrer Haltung gegen
das Heim und gegen die jeweilige Gruppe unterstützt. Als dann
Patricia zu ihrer Mutter zurückkehrte, lehnte diese jede Zusammenarbeit
mit der Sozialarbeiterin ab.«
Und so stand also Patricia an einem Sommertag vor dem Kloster, mit
dem Koffer in der Hand, und wusste nicht, wie sie nach Hause kommen
sollte. Sie rief an, aber in der Wohnung am Keißlerplatz hob
niemand ab. Erna verbrachte im Sommer üblicherweise viel Zeit
in einem alten Bauernhaus auf dem Land, das ihrer Freundin gehörte,
der Tante Maria. Dort wird sie sein, dachte Patricia, und ließ
sich mit dem Taxi hinfahren. Erna war tatsächlich bei der Freundin.
Ihr erstes Wort, als sie die Tochter mit dem Koffer sah: »Um
Gottes Willen, bist du abgehauen!?«
Ein paar Tage später war sie noch einmal in Baumgartenberg. Erna
war mit ihr hingefahren, um die Sachen der Tochter abzuholen, die
noch im Heim geblieben waren. Erna hatte eine längere Besprechung
mit der Oberin. Wahrscheinlich sind dabei die amtlichen Erledigungen
zur endgültigen Entlassung abgewickelt worden. Patricia: »Da
hat vielleicht meine Mutter noch was geklärt, ich weiß
es nicht, ich war nicht dabei, gelt.« Das letzte Wort sagt sie
in breitem oberösterreichischen Dialekt. Es ist das erste mal
in den eineinhalb Tagen, seit wir uns unterhalten, dass sie mit österreichischer
Sprachfärbung redet.
------------------------------------------------------------------------------------------------
Walter Kohl, geboren 1953 in Linz, ehemaliger Autovermietungsangestellter
und Journalist, seit 1996 freier Schriftsteller. Mitglied der GAV.
Lebt in Eidenberg bei Linz.
Kohl schrieb mehrere Bücher (zuletzt: »Wie riecht Leben«,
Zsolnay, Wien 2009; »Die dunklen Seiten des Planeten«,
Edition Geschichte der Heimat, Grünbach 2008; »Nacht die
nicht enden will«, Leykam, Graz 2007). Im August 2011 erscheint
bei Picus, Wien, der Roman »Das leere Land«, im Frühjahr
2012 bei Zsolnay, Wien, die dokumentarische Arbeit »Drei Schwestern«.
Weiters schrieb Kohl Theaterstücke (zuletzt: »the fight«,
Quelle-Halle Linz, 2011) und Hörspiele.
|