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Independent Living
Eine
Groll-Geschichte für Just Merit (1963-2001). Von Erwin Riess.
Der Dozent und Groll arbeiteten auf der Donaulände, neben der
Einfahrt zum Werkshafen der Voest. Sie trugen Äste, Metallteile,
Drähte, vom Regen aufgeweichte Kartons, Müllsäcke und
Papier zusammen und errichteten einen Scheiterhaufen. Sie schufteten
konzentriert, stumm und zielstrebig bauten sie an dem Monument. Auf
einem talwärts fahrenden serbischen Motorschiff waren drei Männer
auf die beiden aufmerksam geworden. Einer, Groll hielt ihn für
den Kapitän, beobachtete die Anstrengungen der beiden Freunde
durch ein Fernglas. Nach geraumer Zeit legte Groll eine Pause ein.
Der Dozent setzte sich im Schneidersitz neben Grolls Rollstuhl und
betrachtete nachdenklich den mannshohen Haufen. »Ich habe gearbeitet,
ich habe geschwiegen, und jetzt habe ich ein Anrecht auf eine Erklärung.«,
sagte er nach einiger Zeit.
Groll nickte.
»Es wäre schön, könnte ich die Erklärung
noch vor Einbruch der Dunkelheit hören«, fuhr der Dozent
fort. »In einer halben Stunde fällt die Dämmerung
ein.«
»Wir sollten solange warten«, sagte Groll und verankerte
ein rostiges Eisenstück im Haufen.
Der Dozent schüttelte den Kopf.
Als Groll sich anschickte, den Haufen zu entzünden, sagte eine
schnarrende Stimme in tiefem Linzer Dialekt, Groll solle das bleiben
lassen, andernfalls finde er sich im »Häfn« wieder.
Die beiden Freunde drehten sich um. Eine Polizeistreife mit einem
Schäferhund war nähergekommen, zwei kräftige junge
Männer nahmen neben dem Haufen Aufstellung. Nach einer Ausweiskontrolle
und einer Belehrung sahen die Beamten von einer Anzeige ab, ermahnten
die beiden Freunde aber, kein Feuer anzuzünden. Falls Sie es
doch täten ihre Daten seien nun erfasst , müßten
sie mit einer Anzeige und einer empfindlichen Strafe rechnen. Mit
diesen Worten wandten sich die Beamten ab, nur der Schäferhund
wollte das Schnüffeln an Grolls Rollstuhl nicht sein lassen,
was die Beamten neugierig werden ließ.
»Koks? Hasch?« fragte der eine. »Crack?« der
andere.
»Leberkäs-Pepi«, antwortete Groll. »Eine neue
Kreation: Leberkäs mit Knoblauch, Spinat und Pfefferminzkaugummi.
Ein Stück ist auf Josephs Fußbrett gefallen.«
»Leberkäs-Pepi ist gut«, sagte der eine.
»Seeber ist besser«, meinte der andere.
Darauf entbrannte zwischen den beiden eine leidenschaftliche Diskussion,
die vom Knurren des genervten Hundes unterbrochen wurde.
»Wie heißt der Hund?« fragte Groll.
»Schlögl«, antwortete der eine Polizist.
»Der beste Innenminister aller Zeiten«, ergänzte
der zweite.
»Damals glaubte man noch, es kommt nichts Schlimmeres nach«,
sagte Groll.
»Moment«, meinte da der Dozent und wollte zu einer Rede
ansetzen.
»Kusch«, sagte Groll. Worauf der Dozent schwieg und Schlögl,
der Polizeischäfer, mit dem Schweif wedelte.
»Passen 'S gut auf Ihren Freund auf«, sagte der eine Polizist
zum Dozenten.
»Sie auch«, sagte Groll zum andern Beamten. Er schnalzte
mit der Zunge, Polizeihund Schlögl trollte sich, schweifwedelnd.
Die Beamten folgten ihm.
»Warum haben Sie den Hund verabschiedet?« klagte der Dozent,
als die beiden außer Sichtweite waren. »Schlögl hätte
uns im Spiel gehalten. Vielleicht wären wir mit den Beamten ins
Gespräch gekommen, Sie hätten vom Anlaß des Feuers
erzählt, und die Beamten hätten uns pyrotechnisch freie
Hand gelassen.«
Joseph hasse Polizeihunde, erwiderte Groll. Außerdem befänden
sie sich in Linz an der Donau und nicht im Märchenland auf dem
Pöstlingberg. Er fischte im Netz nach einer Flasche, zog einen
Stolichnaya hervor, öffnete die Flasche, nahm einen Schluck und
reichte den Wodka an den Dozenten weiter. Während der die Flasche
mißtrauisch betrachtete und zögerlich an die Lippen setzte,
sprach Groll auf ihn ein.
»Wir feiern hier einen Sterbetag, manchmal muß so etwas
sein. Vor zehn Jahren starb, achtunddreißigjährig, ein
bemerkenswerter Mensch und Künstler. Mit bürgerlichem Namen
hieß er Gustav Dornetshuber und stammte aus Peuerbach, einer
verschlafenen Gemeinde, die einst in den Bauernkriegen und jüngst durch einen Frächterskandal
geschichtsauffällig wurde.«
Der Dozent setzte die Flasche ab und schüttelte sich wie ein
nasser Hund.
»Und warum denken Sie an diesen Mann?« krächzte er.
»Ich denke an ihn, weil es angesichts der heutigen politischen
und gesellschaftlichen Verhältnisse kaum vorstellbar ist, daß
es einst in dieser Stadt einen Rebellen gab, der trotz einer schweren
Behinderung unerschrocken seinen Körper einsetzte und wilden
Punk und aufregende Maschinenkunst produzierte. Dieser Mann, nach
einem Unfall während eines Bühnenabbaus querschnittgelähmt,
nannte sich Just Merit und war das Gegenteil von jemandem, der an
den Rollstuhl gefesselt war, wie es in FM 4 so dumm über ihn
hieß. Wenn Just Merit bei seinen Aktionen nicht gerade über
die Bühne robbte oder wie ein Derwisch umhertobte, wenn er nicht
gerade wie ein Zirkusartist in atemberaubender Höhe auf dem Voest-Gelände
gigantische Maschinen aus der Stahlbearbeitung dirigierte, sondern
die Maschinen ähnlich wie Luigi Nono und Maurizio Pollini in
den Fiat-Werken in einen musikalischen Zusammenhang brachte, arbeitete
und gründete er neue Projekte in Avantgardekommunen und -gruppen
wie Krüppelschlag, Contained, Times Up und anderen*.
Just Merit hatte sich einer radikalen Avantgarde verschrieben, ohne
in die Fußangeln dieser Haltung hineinzutappen; als einer der
ersten in Österreich lebte er die Prinzipien des Independent
Living Movement behinderter Menschen, wie er sie in Kalifornien kennengelernt
hatte, wo er ebenfalls künstlerische Aktionen durchführte
und zu Bekanntheit gelangte. In seiner Arbeit strahlte Just Merit
weit über die harmlosen kleinbürgerlichen Belustigungen
der Wiener Aktionisten hinaus und wurde daher von den damaligen Kleinbürgerrabauken
und gegenwärtigen Universitätsprofessorinnen und -professoren
mit manifesten Vorlieben für harmloses Kunstgewerbe als gefährliche
Konkurrenz totgeschwiegen.
»Ich wünschte, ich hätte den Mann einmal auf der Bühne
gesehen«, sagte der Dozent.
»Ich wünschte, er würde noch unter uns sein«,
erwiderte Groll.
»Es scheint, daß sogar der tote Just Merit Ihnen
Kraft gibt.«
»Der Just Merit des Jahres 2011 wäre aber nicht mehr der
Just Merit der neunziger Jahre. Jemand, der seismographisch genau
auf politische und soziale Veränderungen reagierte wie Just Merit,
hätte die Geschichte des Niedergangs der Linzer Avantgarde, die
zum Besten zählte, was Österreich nach 1945 hervorgebracht
hatte, nicht unbeschadet überstanden. Vielleicht wäre er
auch aus Linz weggegangen.«
»Weggerollt«, korrigierte der Dozent.
»Weggeflogen«, bekräftigte Groll.
So saßen die beiden noch lang bei einem nicht angezündeten
Gedenkfeuer. Aber das Feuer, das durch die Erinnerung an Just Merit
in den beiden Freunden entzündet worden war, erhellte dennoch
die Nacht. Der Wodka kreiste, Schiffe fuhren vorüber, rasch
und unnahbar. Groll erzählte von Merits Klanginstallationen und
von Elvis Presley-Songs,
die Merit viel zu schnell, hart und atemlos und
großartig sang.
Gustav Dornetshuber (Just Merit) 1963-2001
Born 8 October 1963, died 22 January 2001 from kidney cancer. Just's
attitude to biographies was somewhere between fictions and »es
geht di' nichts an!« (approx translation, »get fucked!«)
but in order to reduce the chances of people getting it wrong, here
are some basics. And some namedropping, because Just always worked
with other people. Worked with the group »Assoziierte Produzenten«
based in Linz, their show »Straße der Sehnsucht«
(Street of Desire) at the Ars Electronica in 1986 was a compressed
city. Breaking down the show Just was blown off a scaffolding trying
to stop a sheet of aluminium landing on a colleague below him. Worked
with Wolfgang Lehner, Istvan Nagy, Kurt Holzinger and Peter Donke.
Las Vegas, rehabilitation, random gigs singing Elvis Presley songs
on street corners, passing out money from a cup to passers by, organising
B-grade films, meeting Matt Hackert and a bunch of people who remained
friends in San Francisco. Krüppelschlag, 1989-1992, trash rock
band and more. Band members included Gabi Kepplinger, Peter Donke,
Horst and Peterl. Several releases. Project »Gyroscope«
at Ars Electronica 91, XXX Festival Amsterdam, several places in the
USA, UK. Close involvement with STWST TV. 7inch12 record label with
Fadi Dorninger.
Contained 1992-1996. Steel, machines, recycling, active relationship
to the workers in the steelmill Voest Alpine. Projects Maschinenkampf,
Wochenschau and Rearviewmirror stand out. Worked with Leo Schatzl,
Martin Reiter, Matt Heckert, Franz Xaver, Rudi Heidebrecht, Tina Auer,
Manuel Schilcher, Gordon W, Christian Staudinger, Chip Flynn, John
Duncan, Chico McMurtrie, Laura Kikauka, Todd Blair, Linda Nilsson,
Alex Zuljevic, Tom Teibler, Liz Young, Jim Whiting, Sam Auinger, Marc
9, Tatjana Didenko, Tim Boykett, Gordon Monahan, Attwenger, and who
knows who else.
Time's Up 1996-. Crossing from media through haptic body work, environments
that get people out of what they expect. Hyperfitness Studio, several
CDs, books, videos. Last production SPIN, a literally immersive virtual
reality / real virtuality experience. Worked with Lois Wohlmuther,
Tina Auer, Alex Barth, Tim Boykett, Matt Heckert, Marc 9, David Moises,
Andy Strauss, Bert Zettelmeyer, Gerd Trautner, Anatol Bogendorfer,
Martin Greunz, Andy Mayrhofer as well as John Duncan, Triclops, Nic
Baginsky, Staalplaat and many others.
Linzer Freie Szene 1999-. Main formulator and agitator with Gabi Kepplinger,
Wolfgang Preisinger and Georg Ritter, working to ensure that the independent
scene would not get ignored or swallowed up in the plans for the Linz
cultural development plan.
Time's Up.
http://timesup.org/content/just-merit
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