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Stadt, Stadterkundung und die Modernisierung der Intellektuellen
Christine
Holste hat den Band »Kracauers Blick« herausgegeben und
damit Kracauers beeindruckend vielfältige »Anstöße
zu einer Ethnographie des Städtischen« aktualisiert. Tanja
Brandmayr hat die Berliner Kultursoziologin in Linz getroffen
ein Interview.
Siegfried Kracauer wird größtenteils als Filmhistoriker,
Filmtheoretiker, als ein der Kritischen Theorie nahestehender Essayist
rezipiert. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mit dem von Ihnen
herausgegebenen Buch die Wahrnehmung des Kracauerschen Schaffens doch
sehr erheblich erweitern wollten?
Nun, Anfang der 90er Jahre befanden wir uns nach der Berliner Maueröffnung
ja in einem eher überraschenden Aufbruch: die Architekten machten
sich daran, ihr Fachverständnis zugunsten gesellschaftlicher
Aspekte des Stadtumbaus zu erweitern, und unter Soziologen interessierte
man sich stadterkundend und kulturdiagnostisch u.a. für Schwerpunkte
des geteilten östlichen und westlichen Zentrums. Da lag die Neulektüre
Kracauers natürlich nahe: Sein physiognomischer Blick, seine
Kurzprosa und Romane sowie die Vorarbeiten zu einer medienzentrierten
Analyse der Weimarer Republik boten vielfältige Anregungen, um
geschichtliche Bruchstellen zu begreifen. Denken Sie z.B. an Kracauers
Dictum von den unbeachteten Oberflächenerscheinungen, die ernst
zu nehmen wären, um solcherart Einblick in die Gesamtverfassung
einer Gesellschaft zu erhalten, seine Wertschätzung städtischer
Improvisationsräume, bzw. der »Kraft« der Räume,
Erinnerungen entstehen zu lassen, usw. Zugleich war 1989 Thomas
Y. Levins umfassende Bibliographie erschienen eine bewundernswerte
Leistung angesichts Kracauers exilbedingter »exterritorialer«
Lebensweise und der Verstreutheit seiner Publikationen. Und dadurch
bekamen einige Aspekte von Kracauers Werk plötzlich neues Licht
und Farbe, es entstanden Forschungen, die vom Werk ausgehend neue
Hintergründe ans Tageslicht brachten.
Kracauer vereinte in sich beachtliche Gegensätze. Er wurde
nach seinem Studium der Architektur, Soziologie und Philosophie zu
einem der Feuilleton-Redakteure der Frankfurter Zeitung. Trotz einer
pro-duktiven Redakteurs- und Schreibtätigkeit gab er sich dem
Flanieren durch die Straßen hin; oder auch einem »Strßenrausch«.
Ihm wird ein chaplinesk-melancholisch-komischer Blick auf die Welt
attestiert. Er entdeckte den Film als neuralgische Zone des Städtischen.
Er begab sich zu Studienzwecken als »transzendental Obdachloser«
in fremde Welten, um sie teilnehmend oder phänomenologisch zu
beobachten ... Das ist doch eine sehr interessante Wechselwirkung
eines Sich-methodisch-außerhalb-Stellens um dann andererseits
z.B. innerhalb einer Zeitungswelt bestens zu funktionieren?
Ich denke, Sie haben eben stichwortartig einige wichtige Momente der
Kulturdiagnose Kracauers umrissen. Tatsächlich lebte die deutsche
Nachkriegsgesellschaft von 1918 im Zustand von Anomie. Und in dieser
Situation bestand einfach die materielle Notwendigkeit, sich angesichts
wachsender Geldentwertung einen einigermaßen sicheren Brotberuf
zu suchen die Stellung als Vollredakteur in der FZ hat Kracauer
ja erst relativ spät, nicht vor 1924 erreicht. Und sein 1934
die FZ-Verhältnisse frei reflektierender Roman »Georg«
legt beredt von den Nöten dieser journalistischen Existenzform
Zeugnis ab. Zugleich aber hat Kracauer, ähnlich wie Walter Benjamin
und Franz Hessel, in seiner Pariser Kurzprosa die Figur des Flaneurs
wiederaufgegriffen, um eine erkenntniskritische, phantasiefreisetzende
Kontrastfolie zu der rasanten Rationalisierung und Modernisierung
des urbanen Lebens der Weimarer Zeit zu schaffen. Das hat mich sehr
interessiert, wie diese Kontrastfolie beschaffen war, und ich meine,
dass Kracauer da bewusst seine Quellen etwas im Dunkeln gelassen und
seine Anregung durch die Fotografie Atgets nicht erwähnt hat.
Aber interessanterweise war es dann wiederum gerade Kracauer, der
im Selbstverlust der Melancholie ein gesteigertes Wahrnehmungsvermögen
für Film, Fotografie und Prosa erkannte.
Die Frankfurter Zeitung während der Weimarer Republik:
Der Herausgeber Benno Reifenberg versammelte eine illustre Schar an
Schreibern und Intellektuellen. Und es wurden im Feuilleton zum Beispiel
Miniaturen, aber auch ganze Studien wie etwa »Die Angestellten«
von Kracauer in Fortsetzung publiziert. Mir kommt das aus heutiger
Sicht unglaublich vor Ihnen auch?
Ja, wobei übrigens die Angestellten zu Kracauers Zeiten nicht
erst neu entdeckt werden mussten. Die Betrachtung, die sich vor allem
um die rechtsförmige, ansatzweise auch kulturelle Seite ihrer
Stellung drehte, reichte ja in Deutschland bis in die 80er Jahre des
19. Jahrhunderts zurück. Doch Kracauers »Safari«
in die terra incognita der »neuesten« Angestelltenwelt
zeigte erstmals, wie bei dieser Schicht Arbeit und Freizeit ineinandergriffen,
wie die ökonomischen Rationalisierungsmaßnahmen die individuelle
Existenz bedrohten und wie die dafür bereitgestellten kulturindustriellen
Zerstreuungsangebote beschaffen waren. So gelang es Kracauer
wie Mülder-Bach gezeigt hat den spezifisch modernen Prozess
der Identitätsbildung im Moment der Entstehung freizulegen, ein
viel anspruchsvolleres Vorhaben als die kurze Zeitaufnahme einer Reportage.
Und diese kritische Perspektive rührte an eine politische Grundsubstanz,
die andere Intellektuelle, die sonst im liberalen Feuilleton der FZ
hochkulturelle Themen behandelten, lieber auf sich beruhen ließen.
Es fällt im Buch die wiederkehrende Phrase der »Modernisierung
des Intellektuellen« auf. Sie führt an einer Stelle zur
Einführung des Begriffes der Ethnographie, die ihre Erkenntnisse
in Bezug zur Sprache setzt. Ich beziehe mich hier auf den zitierten
Satz von Clifford Geertz, sinngemäß: »Was tut der
Ethnograph Er schreibt«.
Wenn Sie sich erinnern, dann sind wir mit dem Thema Ethnographie durchaus
vorsichtig umgegangen. Während Mülder-Bach Kracauers Studie
über die Angestellten als »ethnographisches« Projekt
entwickelt, hat Ph. Despoix gleich zu Beginn seines Beitrags die Frage
aufgeworfen, mit welcher Berechtigung man Kracauer als Vorboten einer
urbanen Ethnographie bezeichnen könnte. Ihm ging es dabei um
das literarische Genre der Stadtminiatur, in welcher Kracauer zwischen
1925-33 die chronologische Wandlung großstädtischen Lebens
als eines anonymen Kollektiven festgehalten hat. Die Idee der Lesbarkeit
der Stadt ist selbstverständlich älter und geht auf die
Spätaufklärung und Autoren wie Rousseu, Diderot und Mercier
zurück. Ich habe den Begriff Ethnographie, glaube ich, vermieden,
aber wenn man sich die fotografische Stadterkundung Atgets ansieht,
dann hat das natürlich auch eine Systematik, die der Ethnographie
ähnelt. Die Kracauersche Arbeit an der Modernisierung intellektueller
Existenz durchzieht das Buch hingegen als Leitthema. Sich »ohne
jede ideologische Schutzhülle an die Bruchstelle unserer Gesellschaftskonstruktion«
zu begeben, das war die Kracauersche Ambition. Und wenn wir genauer
hinsehen, dann durchdringen sich hier die Spielfelder der Moderne,
wie Breidecker gezeigt hat, und es wären unter den lebenslang
geistigen Verbündeten auch noch Sigfried Giedion und Erwin Panofsky
zu nennen.
Ich möchte mit einer sehr offenen Frage fortsetzen. Sie
haben selbst einen sehr vielschichtigen Beitrag geschrieben, »Der
gläserne Mensch Siegfried Kracauer als Vermittler einer
neuen Formensprache der Architektur«: Kracauers Leistungen in
den Feldern Film und Architektur sind sehr unterschiedlich bekannt
geworden, obwohl das Städtische in all seinen Ausformungen stets
im Fokus seines Interesses lag. Woran kann das Ihrer Meinung nach
liegen?
Sie haben recht: Die Leistung Kracauers wird immer noch vor allem
mit dem Film assoziiert und die Architektur erscheint als ein peripheres
Nebengleis, bzw. biographisch gesehen, als ungeliebter Broterwerb
in der Osnabrücker Provinz. Das bleibt auch richtig. Doch andererseits
faszinierte mich der Gedanke an Kracauers beobachtender Teilnahme
am Frankfurter »Rat für künstlerische Angelegenheiten«
nach 1918, denn es waren ja völlig neue Weichenstellungen nach
dem desaströsen Kriegsende, und die Planungen der hervorragendsten
Städtebauer wurden damals diskutiert, es ging um Sinn und Unsinn
von Hochhäusern für diesen deutschlandweiten Propagandafeldzug
hat Kracauer ja auch eine liberal zu nennende, wohl dosierte Lanze
gebrochen. Und er hat sich Gedanken gemacht über die Zukunft
des Architektenberufs und die Abschaffung der Ornamentbegeisterung
des Historismus. Allmählich stieß ich dann auf das Muster,
wie Kracauer seine Position an der FZ als Vermittler einer grundlegenden
urbanen Modernisierung aufgebaut hat. Mit welcher Demokratieemphase
er die Stadtbewohner über die Veränderungen seines Umfeldes
informieren wollte, wir können von
dieser Transparenz heute nur träumen. Und ich bemerkte, dass
er sich weniger um die Bauhäusler kümmerte, die ohnehin
im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, sondern den Werkbund stark
machen wollte,
der als Modernisierungsagentur in Deutschland, Österreich und
der Schweiz ja nicht weniger wichtig war. Natürlich interessierte
mich auch, wie er die kommenden Siedlungsbewohner auf die soziale
Errungenschaft dieser neuen normierten Häuser vorbereitete. Nun,
das alles hat Kracauer nicht zu einem Architekturkritiker gemacht
und das meiste (wie viel?)
fiel wohl in seinen Bereich als Lokalredakteur, aber er war Vermittler
dieser Bestrebungen zur Öffentlichkeit hin und hat dann seine
Interessen grundsätzlich in eine Richtung gebracht, bei der ihm
sein städtisches Raumvorstellungsvermögen aus der früheren
Zeit doch große
Dienste geleistet hat.
Warum lohnt es auch heute, Kracauer zu lesen?
Es gibt viele Gründe: Kracauers Romane »Georg« und
»Ginster« sind aus vielen Gründen nicht veraltet,
im Gegenteil: am »Ginster« kann man das Phänomen
der »Masse« soziologisch aber auch literarisch hervorragend,
und zwar in nuce studieren, die Werkausgabe ist nach jahrelangem Stillstand
erfreulicherweise nun zu den Schriften aus dem Nachlass vorgedrungen;
an Kracauer faszinieren aber neben seiner Kurzprosa auch seine Rezensionen,
seine Kommentare zur Bibelübersetzung von Buber/Rosenzweig etwa,
seine Prosa über die alternativen Welten der 20er Jahre: Es ist,
als wenn Sie durch ein Museum über die 20er Jahre flanieren würden.
Es ist der Blick des »Fremden« in der Gesellschaft, den
Kracauer so produktiv zu machen weiß und empfiehlt uns
nicht die Anthropologie, den Blick zurück auf unsere Gesellschaft
zu werfen?
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Christine Holste (Hg.): »Kracauers Blick, Anstöße
zu einer Ethnographie des Städtischen«. PHILO&PhiloFineArts,
Hamburg 2006, 19,80 Euro.
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Tanja Brandmayr ist freie Kunst- und Kulturschaffende
und lebt in Linz.
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